ARCHIVE
Neues Testament 2008,
weiße Kreide und schwarzes Acryl auf A4-Papier, Lars Gressmann
1 PFORTE, 2 TAUFE, 3 VERSUCHUNG, 4 BERGPREDIGT, 5 ABENDMAHL, 6 KREUZIGUNG, 7 PFINGSTEN
Faustus 2005
Bleistift auf A3-Papier, Lars Gressmann
01 STUBE
Der Zyklus beginnt mit der Studierstube des Gelehrten. Wie in einem Ei, aus dem Faust schlüpfen wird, ruht er einsam und beschützt vor der dunklen Außenwelt in seiner alchemistischen Phiole. Die Augen hält er fest verschlossen, beinahe zugenäht. Er führt ein Leben für sich, traumhaft. Als Geistesmensch wächst er aus dem Buch. Und mit der offenen Hand darin blätternd, fächert er sich auf. Die andere Hand, zur Faust geschlossen, stützt den Kopf und bringt ihn damit zum Schweigen. Der wärmende Pelz ist zur Rinde geworden, die ihn in Untätigkeit verharren ließ. Sein Schreibtisch ist die Bühne und alles Folgende nur ein Schauspiel.
Faustus 01 Study
The cycle begins with the study of the scholar. Just like an egg from which Faust hatches, he rests in solitude and protected from the dark outside world in his alchemist vial. Faust’s eyes are firmly closed, as if sewn up. He lives for himself, dreamlike. As an intellectual he grows out of the book. And leafing through the book with his open hand, he opens himself like a fan. The other hand, with clenched fist, supports the head and thus silences him. The warming fur has turned into a crust which has condemned him to inactivity. His desk is the stage and everything that follows is only a stage play.
02 WALD
03 SÜNDEN
Faust verlangt die Höllenfürsten zu sehen, worauf er von jungen Frauen umworben wird. Sie sind als Todsünden verkleidet und tanzen verführerisch einen Reigen, in seiner Stube dicht gedrängt. Links oben befindet sich die Hoffahrt, auch bekannt als Hochmut, und gleich darunter beizt sich der Neid ins eigene Fleisch. Rechts davon die Wollust, verschmolzen zu einem Fleisch. In der Mitte, die Trägheit vom dicken Pelz geschützt. Gefolgt von der schweinischen Völlerei, wohinter der Geiz alles hortet. Und geschlossen wird der Ringelreihen vom Zorn.
Faustus 03 Deadly Sins
Faust demands to see the Princes of Darkness whereupon he is courted by young women. They are dressed up as the deadly sins and are dancing a ringed dance seductively, crammed in his study. On the upper left is Vainglory, also known as pride; directly thereunder Envy makes stains into her own flesh; Lust, to the right thereof, is fused into a mass of flesh, Sloth, in the middle, is protected by a thick fur; piggish Gluttony follows; Covetousness thereafter hoards all; and the ring-a-ring-a-roses is closed by Anger.
04 MUSIKANT
05 ZUR HÖLLE
Als Lessing sein Faust-Fragment schrieb, konnte der Aufklärer sich nur retten, indem er den Stoff als Traum erzählte. Also im Nebel eingeschlafen, fährt Faust durch den Vulkan ab in die Hölle und reitet auf den Wellen der großen Schlange, hier ein chinesischer Pappdrache in seiner chaotischen Buntheit. Gestützt wird dieses Trugbild von den Mächtigen, dem Poeten, Krieger, Kaiser und Papst, allesamt Seelen im Höllenfeuer.
Faustus 05 To Hell
When Lessing wrote his unfinished play Faust, the enlightened rationalist could save himself only by telling the story as a dream. Faust, having fallen asleep in the fog, descends into Hell through the volcano and rides on the waves of the big serpent, here a Chinese paper dragon with its chaotic colourfulness. This delusion is supported by the mighty ones, the poet, the warrior, the emperor and the pope, all of them souls in hell’s fire.
06 VOM HIMMEL
07 DURCH DIE WELT
08 TÄGLICH BROT
Der größte Feind des Christentum ist nicht die Aufklärung, die Wissenschaft oder ähnliches, sondern die Brotfabrik. Wenn alle Grundbedürfnisse für wenig Geld befriedigt werden können und Versorgungssicherheit herrscht, dann verliert das Gebet „Unser täglich Brot gib uns heute…“ seine Bedeutung. Wir können Mangel, Schuld und Not aussperren. Was bleibt, ist die Sorge, die uns aus Lehm formte. Ihr gehören wir ein Leben lang, sogar hinter der Mauer des Wohlstands finden wir keine Zuflucht vor ihr.
Faustus 08 Daily Bread
The biggest enemy of Christianity is not enlightenment, science or similar things, but the bread factory. When all basic needs can be satisfied for little money and there is a safe supply thereof, the prayer “Give us this day our daily bread…” loses its meaning. We can shut out shortage, guilt and misery. What remains is the worry that formed us from the dust of the ground. We belong to it our entire lives; we do not even find refuge from this worry behind the wall of prosperity.
09 HAREM
Dieses Bild stellt das Gegenüber der Todsünden dar. Statt in der Enge des Raumes gepfercht, breiten sich die Tugenden auf einem Blütenmeer aus. Mit der Hoffnung beginnt es, dem Einzigen was uns noch hält. Unter ihr der Frieden und rechts davon die Mäßigung, die sich selbst im Zaum hält. In der Mitte, der Glaube an die Liebe. Daneben befindet sich die Keuschheit, in ihrem Stachelkleid für den Lüstling unerreichbar. Gefolgt von der Geduld, im Sinne von erdulden. Dieser Tugendkatalog wird rechts abgeschlossen von der Weisheit, die allein noch einen festen Stand hat.
Faustus 09 Harem
This picture represents the opposite of the deadly sins. Instead of being crammed into the narrowness of the room, the virtues are spread over an ocean of flowers. It begins with Hope, the only thing that holds us here. Under it Peace and, to the right, Moderation that controls himself. In the middle, Belief in Love. Next to her, Chastity with her spiked robe, inaccessible to the lecher. Followed by Patience in terms of endurance. This catalogue of virtues ends on the right with Wisdom who alone possesses a firm footing.
10 KAISER
Der Kaiser, einst irdischer Gott, ist zu einer Spielkarte verkommen. Eine Verkleidung in die er schlüpft, dabei wurde er schon viel zu fett für Alexanders Rüstung. Seine Macht thront auf den Rücken der Bauern, die mit Papiergeld gefüttert schweigen. Das Spiegelbild des Kaisers ist der Narr, der Einzige, der die Wahrheit sagen darf, da keiner ihn ernst nimmt. Des Weiteren steht dem Kaiser der Astrologe zur Seite. Durch die Deutung der Sterne sind wir zur Untätigkeit verurteilt und der Möglichkeit beraubt, eigenwillig zu handeln, weil das Schicksal für jeden feststeht. Die alte heile Welt beruht auf der vollkommenen Kugel, jedoch bekam sie einen Riss und bricht auseinander.
Faustus 10 Emperor
The emperor, once an earthly god, has degenerated to a playing card. A disguise into which he slips, although already too fat for Alexander’s armour. His power is enthroned on the backs of the peasants, who, fed with paper money, keep silence. The emperor’s mirror-image is the jester, the only one who is allowed to tell the truth, since nobody takes him seriously. Furthermore, the astrologer stands at the side of the emperor. By reading the stars we are condemned to idleness and deprived of the possibility to act wilfully, since the fate of all is predetermined. The old intact world is based on the perfect globe, which, however, developed a crack and so falls apart.
11 WAHRHEIT
Früher wurde die Wahrheit veranschaulicht durch eine begehrenswerte Frau, der man nachgerannt ist und die mit jeder Annäherung weiter verschwand. Heute, eine hässliche Matrone, die wir grad noch mit Sprache verschleiern können. Die Ganzheit des Regenbogens, in dessen Unzahl von Schichten wir uns verfingen, zerrissen zu einem Rock, der nichts mehr verdeckt. Aus dessen Stofffetzen nähten wir uns einen Flickenteppich des Wissens, um unsere Blöße zu verhüllen. Wir versinken in Apfelgripschen, in verbrauchten Wahrheiten, denn der Baum der Erkenntnis ist leergefressen.
Faustus (11) Truth
In former times Truth was represented by a desirable woman, a woman you pursued, but who moved further away with each approach. Today she is an ugly matron whom we can just veil with language. The integrity of the rainbow, in whose many layers we are entangled, is torn into a skirt that no longer conceals anything. From the rags we have sewn a patchwork of knowledge to cover our nakedness. We are submerged by apple cores, in used-up truths, for the tree of knowledge has been consumed.
12 WELTTHEATER
Der Vorhang, ein Rauschen der Lebensfäden. Wie Odysseus ist auch Faust an den Mast geschnürt, obwohl er frei zu fliegen glaubt. Auf der Bühne kommt der Geist der Helena zum Vorschein, nur eine Sprechblase, die jederzeit zerplatzt. Und Mephisto, der Einflüsterer, dirigiert mit einer Nadel als Taktstock die uniformierte Masse, welche mit Heidenlärm direkt ins Grab marschiert, dem großen Abfluss des Lebens.
Faustus 12 World Theatre
The curtain, a rushing of the threads of life. Like Odysseus, Faust is tied to the mast, although he believes to be flying freely. The spirit of Helen of Troy appears on the stage, a balloon which may burst any moment. And Mephisto, the prompter, using a needle as a conductor’s baton, conducts the uniformed crowds who march, with an unholy din, directly into the grave, the large drain of life.
13 GEHEIMNIS
14 RAUSCH
Der Palast des Kaisers brennt ab und draußen zieht der Freudenumzug seine Bahn. Nach der Vertreibung aus dem Paradies lässt sich die Welt nur durch ein Leben im Rausch ertragen. Der Puppenkasper wird von den wilden Bacchantinnen, in ihren Rehfellen, in Stücke gerissen. Wobei Priapos, der Fruchtbarkeitsgott, sich als Platzhirsch zu ihnen gesellt, aber vielleicht ist er auch nur ein Opfer ihrer Raserei. Bei diesem Fest herrscht Trunkenheit und ausgeschenkt wird nicht das klare Wasser der Vernunft. Lieber verkriecht man sich tief in den Blütenkelch und labt sich an dessen klebrigen Honig, abgeschirmt von der Welt. Oder man taucht gleich ab ins Weinfass, wohl bekommts!
Faustus 14 Drunkenness
The emperor’s palace burns down. Outside a procession of joy proceeds along its path. After the expulsion from Paradise, the world is bearable only in a state of drunkenness. Punch is torn to pieces by wild bacchantes wearing roe deer skins. They are joined by Priapus, the god of fertility, who may be there as the strongest stag of the rutting place or just as a victim of the bacchantes’ frenzy. This fete is dominated by drunkenness; it is not the clear water of reason that is poured out. They prefer to crawl deep into the calyx and to relish the sticky honey, isolated from the world. Or they dive directly into the wine cask – Good health!
15 HELENA
Das Ich, und somit die Welt, lässt sich nur mit Hilfe eines Spiegels erkennen. Die Wahrnehmung ist fest an ihn gebunden, will man sich selbst als ein Ganzes betrachten, steht das Ich einem immer im Weg, denn Nähe macht bekanntermaßen blind. Doch für andere wird man erst durch den dabei entstandenen Doppelgänger zu etwas Fassbarem. Dieser Rahmen der Selbsterkenntnis, auch genannt die Schwelle zwischen Innen- und Außenwelt, wird gehalten von Helena. Sie ist die Schönheit in Gestalt, fühlbar in allem Sterblichen, was in dieser Schablone Form annimmt.
Faustus 15 Helen of Troy
The ego, and thus the world, can be recognised only by means of a mirror. The perception is tightly bound to it; if you want to regard yourself as a whole, your ego will always be in your way; for, as you know, closeness is blind. However, the double produced by the mirror transforms you into something conceivable by others. This framework of self-knowledge, also known as the threshold between the world within us and the world outside, is held up by Helen. She is the embodiment of beauty, perceptible in all things mortal, which takes shape in this template.
16 HENKER
17 ALTER MANN
Faust II beginnt mit Schwimmen im Vergessen, Lethes Flut. Einem Wasserfall gleich stürzt sich Faust krachend nieder und erwacht von aller Schuld gereinigt auf einer Blumenwiese. Der Regenbogen erhebt sich über ihn und als er von den ersten Sonnenstrahlen getroffen wird, muss er seinen Blick abwenden. Die Erscheinung Gottes ist für ihn unerträglich, obgleich diese Ansicht nur eine gemalte ist. Er kehrt sich ab von seinem Werk und händigt sich somit den eigenen Dämonen aus.
Faustus 17 Old Man
Faust Part II begins with swimming into oblivion, Lethe’s waters. Like a waterfall Faust crashes down and wakes up on a meadow of flowers, purified of all guilt. The rainbow rises over him, and when struck by the first sun rays, he must turn away. The appearance of God is unbearable for him, although this view is only a painted one. He turns away from his work and thereby surrenders to his own demons.
18 JUNGFRAU
Am Ende von Goethes Faust I fürchtet sich Gretchen vor den kalten Lippen, verschuldet durch die Maske der Jugend. Sie sucht Erlösung im Schoß der großen Himmelskönigin, der Mutter voller Gnade. Nach der Defloration tut sie gut daran, ihre Blume, oder wie in diesem Fall den Märtyrerpalmzweig, in die Vase zu stellen, um den Schein der Unschuld zu wahren. Ähnlich dem Kerker, in dem sie auf den Tod wartet, der sie vor Faust beschützt. Jener lauert als Jäger auf seine Beute, ständig begleitet von seinem Schatten Mephisto, der zum Angriff bläst.
Faustus 18 Virgin
At the end of Goethe’s Faust Part I, Gretchen is afraid of the cold lips caused by the mask of youth. She looks for salvation in the lap of the great Queen of Heaven, the mother full of mercy. After her defloration she is well advised to put her flower, or in this case the palm branch of martyrdom, into the vase in order to keep up the appearance of innocence. Similar to the prison, where she is waiting for death and which protects her from Faust. Like a hunter, Faust is on the lookout for his prey, permanently accompanied by his shadow, Mephisto, who sounds the charge.
19 GARTEN
Die harmonische Vereinigung von Kunst und Natur verwirklicht sich im Garten.
In ihm blühen die Blumen des Paradieses. Die blutende Dornenhecke kann niemand durchdringen, auch nicht die wütenden Vogelfrauen, die Amazonen. Somit ein Rückzugsort, wo man geschützt vor der Außenwelt wohnt. Vergleichbar dem Aquarium, ein Tempel des Überlebens, auf den die Zierfische angewiesen sind, genau wie Faust, der sich nach den stechenden Beinen der Meerjungfrau sehnt. Die geliebte Galatea verwandelte Amor mit seinen Pfeilen in einen Trümmerhaufen. Einst war Eros eine der drei Urkräfte, unbesiegbar,alles beherrschend. Nun ein verspielter Knabe, der jeden nach Belieben in tiefste Qualen stürzt. Weshalb Faust dem Teufelchen gehörig den Hintern versohlt.
Faustus 19 Garden
The harmonious union of art and nature is realised in the garden. The garden is home to the flowers of Paradise. No one can penetrate the bleeding thorn hedge, not even the furious bird women, the amazons. Hence a resort where one can live protected from the outside world. Comparable to an aquarium, a temple of survival, which the toy fish depend upon, exactly like Faust, who longs for the piercing legs of the mermaid. The beloved Galatea has been reduced to a heap of rubble by Cupid’s darts. Once Eros was one of the three elemental forces, invincible, dominating everything. Now a playful boy who tortures everybody at will. Wherefore Faust spanks the little devil properly.
20 POLYPHEM
21 BUHLEN
22 WEHEKLAG
23 ABENDMAHL
24 MISTHAUFEN
DIE OFFENBARUNG DES JOHANNES
in 17 Tafeln 2000-2004, Bleistift auf A3-Papier, Lars Gressmann